1955
Ab Sommer ist mein
Reinlichkeitstraining beendet.
Ich rede am Ende des
dritten Lebensjahres in Haupt- und Nebensätzen, mit
mehr oder weniger
geordneter Grammatik. Ich rede von mir selber, per „ich“
und von anderen per
„du“, „er“ oder „sie“, je nachdem es die Situation erfordert.
In meiner
Personenbeziehung bin ich differenzierter geworden, die Machtkämpfe sind
nuanciert.
Es gibt nicht mehr
nur Allmacht und Ohnmacht, sondern viele Grade dazwi-
schen.
Leistungen und
Gegenleistungen, stehen in genauerem Verhältnis zueinander.
Ich gehe mit
Personen Koalitionen ein, die allerdings noch je nach Bedarf und
Vorteil wechseln.
Von unschätzbarem
Nutzen für mein soziales Verhalten, sind dabei in der
Hauptsache die
Kontakte mit Oma Otti sowie mit meinen Onkeln und Tanten,
vorwiegend mit
Ludwig, Peter, Fritz und Otti, die sich alle im Teenager-Alter
bzw. jungen
Erwachsenenalter befinden.
Die lustigen
Streiche, das Toben, das Verständnis und Wohlwollen welches mir
von Ihnen
entgegengebracht wird, werde ich nie vergessen. Bald bin ich mehr
bei Oma Otti und
ihren Kindern als zu Hause bei den Eltern.
Das Essen schmeckt
bei Oma Otti einfach besser. Es sitzen immer viele Per-
sonen am
Mittagstisch die auch untereinander kommunizieren. Alle Zwänge
fallen hier von mir
ab. Immer öfter halte ich mich im Treppenhaus, bzw. in
der Küche von Oma
Otti oder im Schlafzimmer der Jung´s auf. Ich darf auf
dem Motorrad von
Onkel Ludwig sitzen, oder Onkel Fritz nimmt mich im Hand-
wagen mit zur
Müllkippe, machmal spielen wir sogar zusammen auf der
Straße.
Meinen Onkeln und
Tanten sowie meinen Großeltern habe ich es zu verdanken,
daß es auch so etwas
wie Freude und Spaß in meiner Kindheit gab. Auch bei
Oma und Opa Palm
fühle ich mich wohler als bei den Eltern. Obwohl Lothar
studiert, findet er
immer etwas Zeit mit mir zu spielen.
Wir wohnen immer
noch im Obergeschoß, in zwei Zimmern (Küche und Schlaf-
zimmer), langsam
wird es eng, dies ist auch mit ein Grund dafür, daß ich im-
mer öfter im Garten
spiele. Es gibt hier viel zu erkunden und meine Neugier
ist schier
grenzenlos.
Es macht riesigen
Spaß den Hühnern zuzuschauen, das Gemüse und die Blu-
men zu bestaunen.
Vögel, Bienen, Insekten bei ihrem Treiben zu beobachten.
Schlagzeilen des
Jahres
Die Armee der geschlagenen kehrt aus
der russischen Gefangen-
schaft in eine nach der Kapitulation
fremde Heimat zurück. Er-
schöpft und verbittert hören diese
ersten Spätheimkehrer am 9.
Oktober die Begrüßungsworte
westdeutscher Offiziere.
Der unbekannte Papa wird von vielen
Jugendlichen zwischen 10
und 15 Jahren mit gemischten Gefühlen
aufgenommen. Andere
Väter kehren nach der harten russischen Gefangenschaft nicht
mehr nach Hause zurück, sie sind durch
Hunger und Zwangsarbeit
gebrochen oder gestorben.
James Dean stirbt bei Paso Robles in
seinem Porsche.
Die Lufthansa nimmt nach 10-jähriger
Unterbrechung den Flug-
betrieb wieder auf.
14. Mai, acht osteuropäische Staaten
schließen sich zum Warschauer
Pakt zusammen. Dies ist die Einleitung
zum „kalten Krieg“. Das Mili-
tärbündnis ist als Gegengewicht zur
USA-dominierten NATO ge-
dacht.
Der 1000 000 te VW-Käfer läuft vom
Band.
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