Freitag, 13. November 2015

Autobiografie Seite 3




                                 

                                                      1954


Zum Ende dieses zweiten Jahres spreche ich Zwei- oder Mehrwortsätze. Die
Worte haben Bedeutung, ich mache Aussagen und Mitteilungen.



Ab Sommer tritt die späte anale Phase ein. Sie erstreckt sich über das dritte
Lebensjahr. Die Handgeschicklichkeit erhöht sich, der Umgang mit Dingen
wie Spielsachen verfeinert sich. Die Objekte gehen unter meiner Behandlung
nicht mehr zugrunde. Eine gewisse „Ordnung“ entsteht.

Ich bastele mit Bausteinen und male mit Vergnügen. Diese Verfeinerung er-
streckt sich auch auf den Umgang mit den Ausscheidungen. Ich lerne, mich
bemerkbar zu machen, wenn ich auf´s Töpfchen muß. Ich benehme mich nun
so, wie es sich die Eltern vorgestellt haben.

Wegen meines mangelnden Ur-Vertrauens kann ich nicht, wie andere gleich-
altrige Kinder, als Bewältigungsresultat der späten analen Phase, Gefühle von
Autonomie und Stolz erwerben. Ich habe nie das Gefühl von Ur-Vertrauen zu
mir selbst und der Welt erfahren. Mein Wunsch „auf eigenen Füßen zu stehen“
wird von den Eltern nicht genügend unterstützt, ja sogar partiell bewusst verhindert. Durch die nicht richtig aufgearbeiteten Krisen in dieser Phase entsteht eine Entwicklung zum Zwangscharakter.

Diese autoritäre Charakterentwicklung führt bei mir zu Egoismus und Geiz, ver-
bunden mit einem Rückfall in narzißtische Strukturen.

Da meine Eltern, beide zwanghafte Charaktere sind, ist diese Persönlichkeits-
entwicklung im Grunde genommen als Spiegelbild ihres eigenen Verhaltens,
erwünscht. Die zwanghaften Verhaltensmuster der Eltern wie Geiz, Kleinlich-
keit in Bezug auf Liebe, Geld und Zeit werden auf mich übertragen und begin-
nen in mir zu wurzeln.

Eine ganz herausragende Eigenschaft des Zwangscharakters ist sein übertrie-
benes Schamgefühl. Jedenfalls fühlen sich Zwanghafte stets exponiert und be-
obachtet, belauern sich auch selbst nach Regungen die sie für unsauber halten.

Die starke Betonung des Schamgefühles führt, wegen der bei mir einsetzenden
Reaktionsbildung. paradoxerweise keineswegs zu einem besonderen Gefühl des
Anstandes, sondern zu zwei entgegengesetzten Reaktionen:

         1. die mit einem Tabu belegten Dinge, möchte ich gerne heim-
             lich tun.

         2. ich projiziere meine verbotenen Neigungen auf andere, und be-
             kämpfe sie dann bei diesen.



In diesem Konflikt kann sich mein kindliches „Ich“ nicht stabilisieren. Ein un-

stabiles „Ich“ bedeutet für die folgenden Jahre eine permanente Identitätskrise mit dem Symptom „allgemeine Lebensunlust“.

In einer gesunden Entwicklung müßte sich mein „Ich“ in den ersten drei Lebens-
jahren, in einer zweiten Geburt, aus der engen symbiotischen Einheit mit der
Mutter lösen. Wegen der auferlegten Zwänge gelingt mir dieses jedoch nur teil-
weise. So entsteht durch diese „Ich-Störung“, für mich eine „schwarz-weiß-Welt“, ohne Nuancen und Zwischentöne.

Bei den praktizierten Erziehungsmethoden der Eltern, gelingt es mir nicht, meine Selbstständigkeit zu erproben bei gleichzeitiger Geborgenheit und liebevoller Begleitung durch die Eltern. Ursächlich für diese Fehlleistung sind die Unfähigkeit, Unsicherheit und Zwanghaftigkeit der Eltern. Meine erwachende Eigenständigkeit wird mit Enttäuschung, Liebesentzug oder Ängstlichkeit quittiert. Selbstsicherheit und das Gefühl für die Grenzen des eigenen „Ich“ können sich bei mir nicht richtig entwickeln. Ich werde quasi gezwungen meine Wünsche denen der Eltern zu unterwerfen.

In mir entsteht ein falsches „Selbst“, ein gespieltes, dargestelltes, unechtes
„Selbst“, mit dem die Eltern zufrieden sind. Ich muss mein wahres „Selbst“ ver-
leugnen. Die Selbstverleugnung wird für viele meiner Leidensgenossen, als
Strategie für das restliche Leben verinnerlicht. Meine große Chance, dieser Selbst-
verleugnung doch noch zu entfliehen, bietet die Pubertät, da in dieser Phase
die eigenen Wünsche radikaler vertreten und vielleicht auch durchgesetzt wer-
den können.

Schlagzeilen des Jahres

         04.01         Die ersten Parkuhren werden in Deutschland (Duisburg)
                           aufgestellt.

         21.01         Das erst Atom-U-Boot der Welt, die „Nautilus“ läuft in den
                           Vereinigten Staaten vom Stapel.



         25.03         8 Oscars für den Film „Verdammt in alle Ewigkeit“.

         20.06         Hans Günter Winkler gewinnt auf Halla die Weltmeister-
                           schaft der Springreiter in Madrid.

         04.07         Die Helden von Bern. Deutschland wird erstmalig Fußball-
                           Weltmeister. Es war der Tag, der die junge Republik ver-
                           änderte. Aus den im Krieg besiegten, wurden wieder Sieger.
                           Der Wundertrainer, der dies fertig brachte, heißt Sepp Her-
                           berger. Die Fußballer Toni Turek, Helmut Rahn und Fritz
                           Walter werden Vorbilder der durch den Krieg frustrierten
                           Generation.




 Im Bikini-Atoll wird die erste Wasserstoffbombe gezündet.








 

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