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Am
2. April habe ich das erste Schuljahr geschafft. Ich steige in das zweite
Schuljahr. Meine Leistungen in Rechnen, Schreiben und Lesen sind gut, jedoch
meine Führung ist „nur“ Befriedigend. Dies führt von Seiten der Eltern
zu einer Moralpredigt über angepasstes und "normales" Verhalten.
Ich
glaube noch an den Nikolaus, St. Martin, Osterhasen und ans Christkind. Oma
Otti versucht mich bei allen Gelegenheiten für
die Kirche zu begeistern. Sie nimmt mich des öfteren mit zu den Messen
und ich kann eigentlich nichts schlechtes darin erkennen außer vielleicht das
es mit der Zeit langweilig wird, weil es immer derselbe Ablauf ist.
Vor
diesem Gott habe ich eine gewisse Ehrfurcht oder besser gesagt Angst, "er
soll ja alles sehen". Allerdings wenn Fronleichnam die Straßen wunderbar
geschmückt sind, es zu St. Martin die Brezel gibt, wenn der Nikolaus Geschenke
bringt und die herrliche Krippe zu Weihnachten bei Oma Otti aufgebaut ist,
erfahre ich ein großes Gefühl von Glück und komme aus dem Staunen überhaupt
nicht mehr heraus.
Alles in allem scheint dieser Gott doch ein liebes und
gutes Wesen zu sein. Allerdings kommt bei Begriffen wie Sünde, Strafgericht,
jüngster Tag usw. wieder meine Angst vor dem "lieben Gott" in mir
hoch. Ich verdränge zunächst den Konflikt und versuche nicht zu viel an Gott
und die Kirche zu denken.
Ab
Mai, mit Beginn des zweiten Schuljahres, bekommen wir als Schulfach Religion.
Dieses Fach teilt sich in die beiden Unterfächer "bibl. Geschichte"
und "Katechismus". Zunächst beginnen wir mit der bibl. Geschichte, die uns Frau Abels
näher bringen soll.
Die
Geschichten aus der Bibel gefallen mir, .... nein sie begeistern mich. Außerdem
wird der Schulalltag abwechslungsreicher durch die jetzt regelmäßig
stattfindende Schulmesse. Von der Schule zur Kirche sind es nur 5 Minuten
Fußweg.
Ich
bin allerdings leicht irritiert, da es einige Mitschüler gibt, die behaupten
"es gibt überhaupt keinen Nikolaus, kein Christkind, keinen St. Martin und
auch keinen Osterhasen".
Ich
weiß am Ende des Jahres überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll.
Allerdings,
als ich in St. Martin (auf einem Foto) einen Verwandten von mir erkenne fühle
ich mich verarscht und fange an die Kirche kritischer zu sehen.
Warum
belügt die Kirche uns Kinder, wenn gleichzeitig Lügen eine Sünde ist? Auch die Eltern belügen mich weiter, oder lassen mich zumindest in meinen Zweifeln alleine.
Irgendwie scheint das Verhältnis meiner Eltern zur Kirche
gestört zu sein. Jedenfalls stehen kirchliche Themen bei ihnen nie auf der
Tagesordnung.
Ich
bemerke ganz deutlich das "Heranwachsen eines eigenen Willens"
bei mir. Bisher habe ich die sittlichen
Gebote und Regeln der Eltern und Lehrer relativ kritiklos übernommen. Bisher
unterlag ich noch einer kindlichen Gläubigkeit. Nun treten erste "eigene"
Differenzierungen von Recht und Unrecht bei mir ein.
Allerdings,
die Autorität der Eltern und Lehrer überwiegt noch, jedoch sehe ich ihre
Anweisungen ab jetzt nicht mehr kritiklos, ich denke mir meinen Teil, da ich ja
gegen ihre Macht keine Chance habe und kindlicher Widerspruch nicht geduldet
wird.
Ausgerechnet
in dieser Phase meines kindlichen, aber auch erstmals kritischen Denkens,
schlägt die Meldung über die erfolgreiche Entwicklung einer Anti-Baby-Pille
(Enovid) aus USA wie eine Bombe ein.
Die
Kirche verdammt die Pille als Teufelswerk und genauso ist die Einstellung aller
Familienmitglieder zu Hause. Ich weiß nicht was ich von dieser Pille halten
soll. Jedoch ist mir eines klar, kritiklos übernehmen, werde ich in diesem
Fall die Einstellung meiner Umwelt auf keinen Fall.
Die
Radio- und Fernsehnachrichten beschäftigen sich sehr intensiv mit dem Problem
"Pille", so dass ich auch andere Meinungen zu diesem Thema ganz
bewusst in mich aufnehme.
Überhaupt
interessieren mich ab jetzt die Nachrichten im Radio und Fernsehen. So ist z.B.
im Fernsehen ein alter russischer Mann (Nikita Chruschtschow) zu bestaunen, der
bei einer Rede vor der UN wild mit einem Schuh aufs Rednerpult schlägt.
Im
November wird ein gewisser Senator John F. Kennedy Kandidat der Demokraten in den USA. Aus einem mir nicht bekannten
Grund, freuen sich die Menschen in Deutschland, über diese Nominierung.
Deutschland
ist im Sommer erstmals auf Achse. Mit der Massenmotori-
sierung
beginnt der große Zug gen Süden. Italien ist für die Deutschen das erste große
Traumziel. "Reisen" wird zur sozialen Errungenschaft.
An
mir geht diese Errungenschaft allerdings vorbei. Es soll noch 11 Jahre dauern
bis ich endlich einmal aus meinem kleinen Dorf herauskommen werde. Während
meiner kompletten Schulzeit kann ich nur neidvoll den Erzählungen der
Mitschüler lauschen die anscheinend mit ihren Eltern die ganze Welt bereisen.
5.
April, der Monumentalfilm "Ben
Hur" läuft in deutschen Kinos an.
Juni, Armin Hary läuft als erster Mensch
die 100 m in 10 Sekunden.
Die deutsche
Fußballmeisterschaft gewinnt der HSV mit seinem
Superstürmer Uwe Seeler (die
Bundesliga gibt es noch nicht).
Adolf Eichmann wird in Buenos Aires vom israelischen Ge-
heimdienst Mossad entführt.
September,
der Ratzeburger "Achter" holt bei den olympischen Spielen in
Rom, Gold.
7.
Oktober, Hitchcock´s "Psycho" hat in Paris Premiere.
Charts 1960
1. Seemann, deine Heimat ...... Lolita
2. Unter fremden Sternen Freddy
Quinn
3.
Banjo Boy Jan und Kjeld
4. Marina Rocco Granata
5. Morgen Ivo Robic
6. Ein Schiff wird kommen Lale
Andersen
7.
It´s now or never Elvis Presley
8. Wir wollen niemals
auseinan... Heidi Brühl
9. Rosalie, mußt nicht weinen Caterina
Valente
10.
Wooden Heart Elvis Presley
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