Freitag, 13. November 2015

Autobiografie Seite 9





                                               1 9 6 0


Am 2. April habe ich das erste Schuljahr geschafft. Ich steige in das zweite Schuljahr. Meine Leistungen in Rechnen, Schreiben und Lesen sind gut, jedoch meine Führung ist „nur“ Befriedigend. Dies führt von Seiten der Eltern zu einer Moralpredigt über angepasstes und "normales" Verhalten.

Ich glaube noch an den Nikolaus, St. Martin, Osterhasen und ans Christkind. Oma Otti versucht mich bei allen Gelegenheiten für  die Kirche zu begeistern. Sie nimmt mich des öfteren mit zu den Messen und ich kann eigentlich nichts schlechtes darin erkennen außer vielleicht das es mit der Zeit langweilig wird, weil es immer derselbe Ablauf ist.





Vor diesem Gott habe ich eine gewisse Ehrfurcht oder besser gesagt Angst, "er soll ja alles sehen". Allerdings wenn Fronleichnam die Straßen wunderbar geschmückt sind, es zu St. Martin die Brezel gibt, wenn der Nikolaus Geschenke bringt und die herrliche Krippe zu Weihnachten bei Oma Otti aufgebaut ist, erfahre ich ein großes Gefühl von Glück und komme aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus.



Alles in allem scheint dieser Gott doch ein liebes und gutes Wesen zu sein. Allerdings kommt bei Begriffen wie Sünde, Strafgericht, jüngster Tag usw. wieder meine Angst vor dem "lieben Gott" in mir hoch. Ich verdränge zunächst den Konflikt und versuche nicht zu viel an Gott und die Kirche zu denken.

Ab Mai, mit Beginn des zweiten Schuljahres, bekommen wir als Schulfach Religion. Dieses Fach teilt sich in die beiden Unterfächer "bibl. Geschichte" und "Katechismus". Zunächst beginnen wir mit  der bibl. Geschichte, die uns Frau Abels näher bringen soll.

Die Geschichten aus der Bibel gefallen mir, .... nein sie begeistern mich. Außerdem wird der Schulalltag abwechslungsreicher durch die jetzt regelmäßig stattfindende Schulmesse. Von der Schule zur Kirche sind es nur 5 Minuten Fußweg.

Ich bin allerdings leicht irritiert, da es einige Mitschüler gibt, die behaupten "es gibt überhaupt keinen Nikolaus, kein Christkind, keinen St. Martin und auch keinen Osterhasen".

Ich weiß am Ende des Jahres überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll.

Allerdings, als ich in St. Martin (auf einem Foto) einen Verwandten von mir erkenne fühle ich mich verarscht und fange an die Kirche kritischer zu sehen.


                                          Mein Onkel Reinhold Hansen als St. Martin

Warum belügt die Kirche uns Kinder, wenn gleichzeitig Lügen eine Sünde ist?  Auch die Eltern belügen mich weiter, oder lassen mich  zumindest in meinen Zweifeln alleine.

Irgendwie scheint das Verhältnis meiner Eltern zur Kirche gestört zu sein. Jedenfalls stehen kirchliche Themen bei ihnen nie auf der Tagesordnung.


Ich bemerke ganz deutlich das "Heranwachsen eines eigenen Willens" bei mir.  Bisher habe ich die sittlichen Gebote und Regeln der Eltern und Lehrer relativ kritiklos übernommen. Bisher unterlag ich noch einer kindlichen Gläubigkeit. Nun treten erste "eigene" Differenzierungen von Recht und Unrecht bei mir ein.

Allerdings, die Autorität der Eltern und Lehrer überwiegt noch, jedoch sehe ich ihre Anweisungen ab jetzt nicht mehr kritiklos, ich denke mir meinen Teil, da ich ja gegen ihre Macht keine Chance habe und kindlicher Widerspruch nicht geduldet wird.

Ausgerechnet in dieser Phase meines kindlichen, aber auch erstmals kritischen Denkens, schlägt die Meldung über die erfolgreiche Entwicklung einer Anti-Baby-Pille (Enovid) aus USA wie eine Bombe ein.

Die Kirche verdammt die Pille als Teufelswerk und genauso ist die Einstellung aller Familienmitglieder zu Hause. Ich weiß nicht was ich von dieser Pille halten soll. Jedoch ist mir eines klar, kritiklos übernehmen, werde ich in diesem Fall die Einstellung meiner Umwelt auf keinen Fall.

Die Radio- und Fernsehnachrichten beschäftigen sich sehr intensiv mit dem Problem "Pille", so dass ich auch andere Meinungen zu diesem Thema ganz bewusst in mich aufnehme.

Überhaupt interessieren mich ab jetzt die Nachrichten im Radio und Fernsehen. So ist z.B. im Fernsehen ein alter russischer Mann (Nikita Chruschtschow) zu bestaunen, der bei einer Rede vor der UN wild mit einem Schuh aufs Rednerpult schlägt.




Im November wird ein gewisser Senator John F. Kennedy Kandidat der Demokraten in den USA. Aus einem mir nicht bekannten Grund, freuen sich die Menschen in Deutschland, über diese Nominierung.



Auf dem Plattenteller eiert der Schlager  Marina, Marina, Marina.

Deutschland ist im Sommer erstmals auf Achse. Mit der Massenmotori-
sierung beginnt der große Zug gen Süden. Italien ist für die Deutschen das erste große Traumziel. "Reisen" wird zur sozialen Errungenschaft.




An mir geht diese Errungenschaft allerdings vorbei. Es soll noch 11 Jahre dauern bis ich endlich einmal aus meinem kleinen Dorf herauskommen werde. Während meiner kompletten Schulzeit kann ich nur neidvoll den Erzählungen der Mitschüler lauschen die anscheinend mit ihren Eltern die ganze Welt bereisen.


5. April,     der Monumentalfilm "Ben Hur" läuft in deutschen Kinos an.



Juni,           Armin Hary läuft als erster Mensch die 100 m in 10 Sekunden.

                  Die deutsche Fußballmeisterschaft gewinnt der HSV mit seinem  
                  Superstürmer Uwe Seeler (die Bundesliga gibt es noch nicht).

                  Adolf Eichmann wird in Buenos Aires vom israelischen Ge-
                  heimdienst Mossad entführt.
         



September, der Ratzeburger "Achter" holt bei den olympischen Spielen in 
                  Rom, Gold.

7. Oktober, Hitchcock´s "Psycho" hat in Paris Premiere.



            Charts 1960

         1. Seemann, deine Heimat ......     Lolita
         2. Unter fremden Sternen             Freddy Quinn
         3. Banjo Boy                              Jan und  Kjeld
         4. Marina                                    Rocco Granata
         5. Morgen                                   Ivo Robic
         6. Ein Schiff wird kommen          Lale Andersen
         7. It´s now or never                     Elvis Presley
         8. Wir wollen niemals auseinan...  Heidi Brühl
         9. Rosalie, mußt nicht weinen      Caterina Valente
        10. Wooden Heart                        Elvis Presley       



























Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen